Eine schnelle Reise durch die Großen Arkana

Viele, die die Tarotkarten zum ersten Mal in die Hand nehmen, sind beeindruckt und berührt von den geheimnisvollen Bildern der 22 Großen Arkana.

Wenn man sie beginnend mit dem Magier in einer Reihe auslegt, fragt man sich, ob genau diese Bilderfolge etwas zu bedeuten hat. Wenn wir uns die Märchen und Mythen der verschiedensten Kulturen anschauen, erkennen wir, dass die geschilderten Ereignisse anteilig oder gänzlich der Bilderfolge der Großen Arkana entsprechen.

Die Kartenbilder der Großen Arkana, ebenso wie Märchen und Mythen, zeichnen die Stationen des archetypischen Lebensweges nach, den der Mensch durchwandern und manchmal auch durchleiden muss, will er ganz und heil werden. Es ist die Reise der Seele durch ihr Leben, bzw. durch einzelne Lebensphasen und Entwicklungszyklen.

Diesen Weg stelle ich hier in einer komprimierten Kurzfassung dar. Damit möchte ich lediglich die Bedeutung der Bilderfolge vermitteln. Gerne würde ich Sie auch dazu anregen, sich über Bücher oder Kurse mit dem Bedeutungsspektrum der einzelnen Karten und ihrer vielfältigen Symbolik nach und nach vertraut zu machen.

 

  1. Als erstes begegnet uns Der Narr. Er bleibt einfach übrig, nachdem wir die Karten von I – XXI ausgelegt haben. Statt einer Ziffer hat er eine Null, bzw. einen Kreis. Wir legen ihn am besten vor die I. Vielleicht ist es der Narr, der den im Folgenden aufgezeigten Weg geht. Am Anfang ist er – wie Parzival – ein naiver Narr, der ganz viel zu erfahren und zu lernen hat. Er wagt jedoch den Sprung ins Leben und lässt sich auf seine Reise ein.
  2. Es ist zuerst der männliche Pol, der in Erscheinung tritt: Der Magier. Vor ihm auf dem Tisch liegen die vier magischen Werkzeuge, mit denen er schöpferisch gestaltend zum Meister seines Lebens wird. Er ist die Verkörperung des männlichen Prinzips in der Schöpfung, die aktive vorandrängende Kraft.
  3. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei…“ (1. Moses 2; 18), er braucht den Gegenpol, das weibliche Prinzip. Die Hohepriesterin fängt die aktive und willensbetonte Kraft des Magiers auf und stellt sich ihr als Gefäß zur Verfügung. Sie ist die formgebende Kraft, durch sie kann neues Leben Gestalt annehmen. Da der Magier und die Hohepriesterin die polaren Ur-Prinzipien des Männlichen und Weiblichen repräsentieren, nennt man sie auch die himmlischen Eltern.
  4. Durch die Vereinigung des männlichen und  und des weiblichen Prinzips entsteht ein Drittes: Die Herrscherin. Sie ist sowohl die Frucht der Vereinigung als auch selbst fruchtbringend. Als Mutter Natur überlässt sie sich den natürlichen Entwicklungsprozessen  und weiß, dass das Leben stetig fortschreitet im immerwährenden Wechsel von Vergehen und Neuwerdung.
  5. Ihr tritt nun der männliche Part an die Seite, Der Herrscher. Er gewinnt der Natur durch Kultur, Zivilisation und soziale Ordnung Lebensräume ab, die der menschlichen Gemeinschaft Schutz geben und Wachstum ermöglichen. Stellt er sich aber über Mutter Natur, zerstört er sie und damit auch die von ihm geschaffene Lebensgrundlage. Natur und Zivilisation können sich durchdringen und vereinigen oder aber unvereinbar neben- und gegeneinander existieren.
  6. Herrscherin und Herrscher bilden die konkrete Manifestation der polaren Urprinzipien in der irdischen Realität. Sie werden deshalb auch die irdischen Eltern genannt. Auf dem Weg durch die großen Arkana hat die Seele die himmlischen Eltern verlassen und ihre irdischen Eltern gefunden.
  7. Nun braucht sie Orientierung und Erziehung. Hier tritt nun Der Hierophant (Hohepriester) auf. Er lehrt die Seele, sich in der Welt zurechtzufinden und die eigenen inneren Räume zu erkunden. Er weist ebenfalls darauf hin, dass es hinter dem Offensichtlichen eine transzendente Kraft gibt. Und so steht der Hierophant für die Suche des Menschen nach Gott, für die Verbindung zum Schöpfergeist, der uns umgibt und der in unserem Herzen wohnt. Um ihn dort zu finden, hören wir auf unsere innere Stimme und verinnerlichen das, was uns an Lehren durch das Schicksal oder durch Lehrer zuteil wird und verwandeln es im Laufe des Lebens in Liebe und Vertrauen. Er ist der Erzieher für den Weg in die äußere Welt und verhilft uns zur Bewusstwerdung unserer Absonderung von der Ganzheit.
  8. Auf diesem Weg sind noch viele Entscheidungen zu treffen: „Entscheidung“ könnte die Karte Die Liebenden auch heißen. Auf den traditionellen Karten ist ein junger Mann dargestellt, der sich zwischen zwei Frauen entscheiden muss. Meist ist es eine ältere Frau, evt. die Mutter, und eine jüngere, wahrscheinlich die Geliebte. Amor zielt mit dem Pfeil auf den Mann. Er wird sich normalerweise für die Geliebte entscheiden. Hier ist das Thema Ablösung angesprochen. Arthur Waite stellt in seinem Kartendeck dieses Thema anhand des  „Sündenfalls“ dar. Durch die Erkenntnis des Guten und des Bösen sind Adam und Eva in die duale materielle Welt gefallen und haben die Freiheit gewonnen, sich zwischen beiden Polen entscheiden zu können. Auch wenn wir es häufig nicht können: Auch wir sind mit der Entscheidung für die Liebe immer gut beraten.
  9. Der Mensch, nun ausgestattet mit der Fähigkeit des Entscheidens und Unterscheidens, verlässt die Stadt seiner Kindheit und wird erwachsen. Der Wagen muss nun bewusst gesteuert werden, will er auf seinem Lebensweg vorwärtskommen. Die Sphinxen, im Vordergrund der Karte, symbolisieren mit ihrer gegenläufigen Schwarz-Weiß-Musterung die Dualität, welche die Seele zur Wahrnehmung der Welt benötigt. Mit der Definition dessen, was sie ist, in Abgrenzung zu dem, was sie nicht ist, bildet die Seele ihr Ich-Bewusstsein, ihre Persönlichkeit aus. Sie integriert und steuert die widerstrebenden polaren Kräfte im Innen und Außen und stellt sie in ihren Dienst. Der Lebenswagen nimmt Fahrt auf.
  10. Der Vorwärtsbewegung des Wagens stellt sie jedoch die Gerechtigkeit*  in den Weg. Mit dem Schwert des vernünftigen Urteilens fordert sie uns auf, zu prüfen, ob das, was wir geschaffen haben, gut ausbalanciert und unser Lebenshaus stabil ist. Denn was würde uns das Vorwärtskommen nützen, wenn das Geschaffene keinen Bestand hätte und wie ein Kartenhaus hinter uns zusammenfallen würde. Wagen und Gerechtigkeit lehren uns die Gesetze der Welt und die Notwendigkeit, für unser Handeln die Verantwortung zu übernehmen. Der mündige und gereifte Mensch weiß nun, dass er erntet, was er gesät hat.
  11. Nun hat die Seele schon vieles erlebt und erreicht. Der Eremit fordert dazu auf, Rückschau zu halten und den zurückgelegten Lebensweg zu betrachten. In zeitweiliger Stille und Zurückgezogenheit wird die Seele sich ihrer selbst bewusst und erkennt, wer sie wirklich ist. Dem inneren Ruf folgend lässt sie sich auf die Drehungen des Schicksalsrades ein.
  12. Es dreht und dreht sich, das Rad des Schicksals. An ihm drehen archetypische Tiergestalten mit: Typhon, der Gott der Zerstörung und Anubis, der Gott der Erschaffung. Beide sind nötig, damit sich Leben im steten Wechsel von Werden und Vergehen weiterentwickelt. Denn ohne Vergehen ist kein Platz für neues Werden. Die Drehungen des Rades führen uns durch die Zeit und alle Erfahrungen, die wir brauchen, um ganz und heil zu werden. Denn das ist unsere Aufgabe für den weiteren Lebensweg.
  13. Mit dem nächsten Schritt macht sich der Mensch auf den Weg ins Land seiner unbekannten, unbewussten Seelenanteile, seinem Schatten. Er hat nun die Kraft*, die in ihm wohnenden animalischen Kräfte kennen zu lernen und dem inneren wilden Tier zu begegnen. Die Karte zeigt eine Frau, die einen Löwen zähmt, sein Dasein anerkennt und einen freundlichen Umgang mit ihm pflegt. So erschließt sie die Löwen-Kräfte für sich und erlebt das Tier als eine hilfreiche Kraft. Ohne Kraft und Stärke kommt man auf dem Lebensweg nicht voran. Ihr Übermaß zerstört, zu wenig davon schwächt unsere Lebenskraft. In unserer patriarchalen Gesellschaft sind es eher die Frauen, die den Löwen in sich erwecken müssen.
  14. Der Gehängte ist ein altes Symbol der Einweihung und Bewusstseinserweiterung sowohl in der germanischen als auch in anderen Kulturen und zeigt einen Mann, der kopfunter an einem Baum aufgehängt ist. Als Initiant hat er sich freiwillig in diese Lage begeben und nimmt seine Hilflosigkeit und Schwäche an. Mit Kraft ist hier nichts auszurichten. Dies kann eine Botschaft an den Mann sein, seine empfangenden und hingebungsvollen Seiten zu entdecken aber auch Schwäche und Hilflosigkeit zuzulassen.Bewusstseinserweiterung bekommt man selten geschenkt. Das Bild des Gehängten zeigt uns eine Prüfung, eine Krise. Wenn wir diese Krise  bestehen, kommen wir zu neuen Einsichten und finden den Mut, weiterzugehen. Doch vielleicht haben wir Angst, vor dem Weg in die Tiefen unserer Seele und der nächsten Karte, dem großen Veränderer, dem Tod?
  15. Mitten in der Reihe der Großen Arkana begegnet uns Der Tod. Er steht nicht am Ende, denn er gehört untrennbar zum Leben. Er ist der Vollstrecker, zerstört, was zerstört werden muss, um den Fluss des Lebens lebendig weiterfließen zu lassen. Er lehrt uns, anzuerkennen, dass alles der Vergänglichkeit unterworfen ist und das jede Phase einen Anfang und auch ein Ende hat. Wir nehmen Abschied vom überholten und abgelebten, von allem alten, was uns am Weitergehen hindert – ein Prozess, der wehtun kann, aber schließlich akzeptiert werden muss.
  16. Nach jedem größeren oder kleineren Tod mischt die Mäßigkeit das miteinander, was als Bestand überdauert hat und das, was neu entsteht. So ist die Seele wieder ein Stück gewachsen und hat Erkenntnis und Stärke dazu gewonnen. Die Karte zeigt den Erzengel Michael als Führer durch die Unterwelt der Seele. Wie wir ihn aus vielen Märchen und Mythen kennen, wird die Seele durch die Prüfungen, denen sie in den folgenden Karten begegnet, nicht allein gelassen. Sie wird von ihrem Seelenführer oder ihrer Seelenführerin begleitet und unterstützt. Wir lernen ihn als innere Instanz, als innere Stimme kennen oder auch als scheinbar von außen kommende Fügung.
  17. Der Teufel verkörpert alles Verdrängte und „Unerhörte“ in uns. Er steht für ungeliebte Seiten, für das, was in uns leben möchte aber nicht darf. Mit seiner Fackel, dem Licht in der Finsternis, leuchtet Luzifer, der Lichtträger, unsere inneren Räume aus, sodass wir unsere Schatten erkennen können. Wir machen uns daran, diesen Teil unserer Persönlichkeit ins Licht des Bewusstseins zu bringen und vorhandene Ketten abzulegen. Vielleicht haben wir uns auch allzu sehr in irdisch-materielle Angelegenheiten verstrickt und müssen uns von diesen Fesseln befreien, um uns wieder mit dem lichten göttlichen Funken in uns zu verbinden.
  18. Der Turm zeigt uns, dass diese Befreiung durchaus heftig sein kann. Strukturen, die zu eng geworden sind und weitere Entwicklung verhindern, werden gesprengt. Die Seele wird aus ihrem selbst gebauten Gefängnis herausgeworfen. Wir sehen hier einen inneren Prozess dargestellt, einen Blitzeinschlag der Erkenntnis. Das Bild zeigt aber auch was geschehen kann, wenn wir liebgewordene Ketten nicht abstreifen wollen.
  19. Es ist wie im Märchen: Der befreite Mensch, der durch die Prüfungen von Teufel und Turm hindurchgegangen ist, landet weich im Stern. Der Stern als Sinnbild der Vereinigung von Materie und Licht, bzw. Geist gibt der Seele neue Hoffnung und weite Horizonte. Sein Funke, den der göttliche Geist in der Materie zündet, ist ein Akt der Zeugung neuer Lebendigkeit. Materie und Geist stehen in ausgewogenem Verhältnis zueinander und ermöglichen Neuanfänge.
  20. Aber noch ist der Neuanfang nicht gemacht. Der Mond lehrt uns, dass wir die Früchte der Erkenntnis, die wir in den Tiefen unserer Seele unter Mühen gepflückt haben (im Märchen z. B. die schwer errungene, lange gesuchte blaue Blume) in unser Tagesbewusstsein zurückbringen müssen. Er zeigt die Seele in einem embryonalen Zustand, dem die Geburt ins Licht folgen muss. Wir dürfen nicht im Reich der Schatten verweilen. Aus Märchen und Mythen wissen wir, dass dies ein schwieriger Weg sein kann, auf dem allerlei Gefahren lauern. Verschüttetes Erleben, unbekannte Ängste und Einflüsse, die möglicherweise über unser individuelles Sein hinausreichen, wollen hervorgebracht und in unser bewusstes Dasein integriert werden. Den Weg dorthin sehen wir auf der Karte abgebildet: Aus dem tiefen Wasser der Seele führt er zwischen Wolf und Hund hindurch zu einem verheißungsvollen, sonnenhellen Tor hin. Und darüber leuchtet die Mond-Sonne, die als Sonnenfinsternis gedeutet werden kann, die ich aber gerne als die Vereinigung der Gegensätze ansehe.
  21. Nachdem wir gewissermaßen mit uns selbst schwanger gegangen sind, erfolgt nun mit der Sonne die Geburt in ein neues Ich-Bewusstsein hinein. Die Sonne zeigt uns ein Kind, das mit ausgebreiteten Armen auf seinem Pferd sitzt und sich zugleich unbefangen und bewusst dem Leben hingibt. Der Rückweg aus den tiefen Wassern ist gemeistert, die Seele hat ans Licht gefunden.
  22. Das Gericht, das auch Auferstehung heißen könnte, ist die letzte Etappe des Weges. Die Seelen sind gerufen vom Erzengel Gabriel und erheben sich aus den Gräbern des Gefangenseins in der Materie. Sie sind erlöst. Sie haben ihre Aufgabe erfüllt und sind den Weg zurück ins Licht mutig gegangen.
  23. Die Welt zeigt es: Wie sind wirklich angekommen und haben alle Widersprüche unseres Weges überwunden und aufgelöst. Wir haben die Polaritäten zusammengeführt, symbolisiert durch die als Hermaphrodit gedeutete Figur. Wir tanzen den Tanz des Lebens in vollkommener Einheit und Befreiung. Dieser Tanz ist jedoch endlich, solange wir noch durch Zyklen zu gehen haben. Ob es der Zyklus der Reinkarnationen ist oder ein Zyklus, den wir mitten im Leben durchlaufen müssen, immer ist die vollkommende Beendigung und Befreiung der Beginn einer neuen Runde im Tanz des Lebens – mit erweitertem Bewusstsein auf einer höheren Ebene.Am Ende wartet wieder

 

Der Narr auf uns. Er ist ein weiser Narr geworden, der die Welt mit Humor und Verständnis betrachtet. Der Narr weiß, dass er irgendwann wieder den Sprung von der Klippe wagen und den Weg von neuem gehen muss. Und dass er wieder ein Stück seiner selbst verwandeln und verwirklichen wird.

*Arthur Waite hat in seinem Kartendeck die traditionellen Positionen von Kraft und Gerechtigkeit vertauscht. Ich behalte die Positionierung früherer Decks (z.B. Tarot de Marseille) bei, obwohl auch die Vertauschung Sinn macht. Mehr über diese Veränderung finden Sie in einem eigenen Beitrag.

Vorrangig verwendete Literatur:
Hajo Banzhaf „Tarot und der Lebensweg des Menschen – die Reise des Helden als mythologischer Schlüssel“ – München 2005
Hans-Dieter Leuenberger „Die Schule der Tarot –  Band 1, Das Rad des Lebens – Ein praktischer Weg durch die großen Arkana“ – Freiburg 1997